SS-Untersturmführer Heinrich Wicker
2nd Lt. Heinrich Wicker
is the third man from the left
The article below is the text of a lecture
given by a German historian, Peter Koppenhoefer, who gave us
permission to print it here. The photos shown during the lecture
are not included.
Peter Koppenhoefer, Koenigsberger Str.8,
D-68723 Schwetzingen
pkoppenhoefer@aol.com
Blick auf einen Taeter: Heinrich Wicker,
ein SS-Offizier zwischen Natzweiler, Hessental und Dachau
1.Einleitung: Taeterorientierung
Seit einiger Zeit gibt es bei der Beschaeftigung
mit dem NS eine Gewichtsverlagerung auf die Taeter. Browning,
Goldhagen sind dafuer bekannte Namen. Hierher gehoert auch der
auf "normale Deutsche" zentrierten Forschungsansatz
von Hartmut Welzer: "Opa war kein Nazi". Ich selber
habe am Beispiel des KZ Sandhofen einen Aufsatz ueber Kollaboration
und Komplizenschaft der normalen Bevoelkerung mit der Konzentrationslager-SS
geschrieben, der versucht die Normalitaetsordnungen ein wenig
aufzuloesen.1 Es zeigt sich dabei, dass die Grenzen zwischen
KZ-Normalitaet und der Umgebungsnormalitaet, also dem damals
normalen Leben im Stadtteil sehr viel weniger scharf waren, als
es heute von fast allen Deutschen fantasiert wird. Das Leben
der damaligen Deutschen hatte sich in ihrer "Gewaltbereitschaft
und kollektiven Komplizenschaft"2 sehr an die SS-Systeme
angenaehert.
Eine Nazi-Taeterbetrachtung steht vor der Gefahr, das zu betonen,
was man selbst nicht ist. In den Worten von Hartmut Welzer: "die
Taeterforschung ist in diesem Sinn psychologisch durch ein Distanzierungsbemuehen
gekennzeichnet, das einen moeglichst grossen Abstand zwischen
den Taetern und ,uns' herzustellen geeignet ist." Das muessen
wir im folgenden festzuhalten, wenn versucht wird einmal einen
SS-Offizier des Natzweiler KZ-Systems in den Mittelpunkt zu stellen.
Welzer empfiehlt, die Taeter nicht als Moerder, sondern als Menschen,
die morden zu sehen.
2.Sonderbefehl 26.9.44: Reorganisation des
KZ Natzweiler nach seinem Umzug
Folie Dokument Sonderbefehl
Dies war vielleicht das erste der nun folgenden
Dokumente, in dem der Briefkopf nur mehr fingiert ist: bis zum
Kriegsende wird weiterhin "Natzweiler" als Adresse
benutzt. Allerdings kann der der Brief tatsaechlich noch in Natzweiler
geschrieben worden, aber es waren keine Haeflinge mehr da, als
erstes Konzentrationslager war dieses ganz in seinen Aussenlager
aufgegangen.
Merkwuerdig an diesem Befehl ist auch, dass die ganzen westlichen
Aussenlager fehlen ausser Rotau. Das linksrheinische Gebiet war
damit praktisch vorzeitig aufgegeben, obwohl z.B. das kleine
Aussenlager Oberehnheim noch Ende Oktober/ Anfang November 1944
erwaehnt wird.3. Hessental fehlt, weil es erst ab November eroeffnet
wurde. Dagegen erwaehnt der Sonderbefehl eine ganze Reihe von
KZ Aussenlagern, die nicht mehr zustande kamen, z.B. in Pforzheim,
Kirchheim/Teck und Mauserwerke Oberndorf.
Der Erlass hatte offensichtlich u.a. die Funktion, die Organisation
des KZ Natzweiler nach der Aufgabe des Stammlagers neu zu begruenden.
Dabei sollten die SS-Offiziere eine entscheidende Rolle als Rueckgrat
der Verwaltung spielen. Fuer sie enthaelt der Sonderbefehl eine
Beschreibung ihrer Disziplinarstrafgewalt und Auflistung der
Strafen.
Benannt werden in dem Befehl 11 Offiziere.4
Maier, Emil Ostf Natzweiler
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Kommandofuehrer und Kompaniechefs
Brendler, Arnold 1916 Ustf SS Frankfurt ->
Leonberg
Waldmann,Bernhard 1896 Hstf Wehrm Mannheim, Heppenheim, Bensheim
-> Kaltenkirchen
Hoffmann, Franz 1906 Hstf SS Neckarelz , -> Oktober Wueste-Lager
Streit, Wilhelm Hstf Wehrm Neckargerach, dann Neckarelz-Gesamtfuehrer
Lautenschlager , Wilhelm Hstf Wehrm Vaihingen, Kochendorf, Neckargartach,
Iffezheim
Schaack 1893 Hstf Wehrm Leonb Echterd Hailf Geisl, Wasseralf
-> Frankfurt
Schnellenbach Hstf Wehrm Dautmergen, Bisingen
Wurth, Eugen Ustf ? Schoemberg ua Spaichingen, Haslach
Wicker, Heinrich 1921 Ustf SS zbV zur besonderen Verwendung
Schaaf Hstf ? zbV
Die Reorganisation des KZ-Netzes von Natzweiler
war verbunden mit der Uebernahme von sechs oder sieben Wehrmachts-
oder Luftwaffen-Hauptleute, die nach diesem Sonderbefehl Hauptsturmfuehrer
( und KZ-Chefs) gewordenwaren.
Es deutet einiges darauf hin, dass die neuen zumindest anfaengliche
Distanz zur SS und den alten SS-Hasen pflegten. Dafuer gibt es
einige Hinweise, zum Beispiel, dass sie sehr lange oder die ganze
Zeit in ihren alten Uniformen blieben. Umgekehrt waren die ihnen
unterstellten SS-Offiziere und Unteroffiziere sauer, wie sich
der Leonberger Lagerfuehrer erinnert, weil sie nun solchen Leuten
gehorchen zu mussten.5
Noch nicht geklaert scheint mir, welche Rolle die Kompaniefuehrer
der Wachleute fuer die Aussenlager selber spielten. In den Nachkriegsvernehmungen
haben sie verstaendlicher Weise Gewicht darauf gelegt, nur oder
fast ausschliesslich fuer den Wachdienst zustaendig gewesen zu
sein. Es gibt jedoch eine Reihe von Belegen, dass diese Offiziere
auch jeweils fuer die Reihe der Aussenlager zustaendig waren,
die der Sonderbefehl aufzaehlt, d.h. auch in deren innerem Bereich.6
Die Aussenlager hatten in der Regel Kommandofuehrer oder Schutzhaftlagerfuehrer
im Rang von Unteroffizieren, die ihre Berichte direkt an die
Zentrale leisteten, die Kompaniefuehrer hatten keinen eigenen
Buerostab fuer die unterstellten AL, nur eine Kompanieschreibstube
bzw. wie der Sonderbefehl es nennt: einen "Rechnungsfuehrer".7
3. HeinrichWicker als Beispiel
Die folgenden Anmerkungen benuetzen zum Teil einige schon von
1986 an gefuehrte Gespraeche mit dem Unterscharfuehrer Stahl,
Mitglied der Sandhofer Wachmannschaft und unmittelbarer Untergebener
des zweiten Sandhofer Lagerfuehrers und Kompaniechefs Wicker.8
Stahl erzaehlte damals ziemlich viel, aber erst parallele Aussagen
in den Ludwigsburger Akten z.B. zum Hessentaler Todesmarsch bestaerkten
darin, diesem Zeugen zu vertrauen. Dazu kommen neuere amerikanische
Veroeffentlichungen ueber die Befreiung von Dachau.9
3.1. Laufbahn
Heinrich Wicker wurde 1921 in Gausbach
bei Gernsbach als Sohn eines Handwerkers und spaeteren Reisenden
geboren, sprach also deutsch mit badischem Akzent. Er besuchte
die Volksschule und dann die Handelsschule, weil er Kaufmann
werden wollte. Natuerlich war er mit seinem Geburtsjahr in der
HJ. Schon mit 15, unmittelbar vor seinem 16. Geburtstag (1937)
trat er in die SS ein, war im Krieg bei einer SS-Panzereinheit.
Nach einer Verwundung wurde er 1943 als Oberscharfuehrer zur
Amtsgruppe D versetzt und nach Lehrgaengen fuer SS-Fuehrerbewerber
an der SS-Junkerkschule Bad Toelz Anfang 1944 mit 22 Jahren zum
Untersturmfuehrer befoerdert, stand also im Rang eines Leutnants
mit der Anwartschaft auf eine weitere Karriere.10
Diese Biografie zeigt also einen Menschen, der zwar nicht seine
Kindheit, aber doch als Heranwachsender voll dem NS-Ideologieapparat
ausgesetzt war. Aus deklassierten Verhaeltnissen stammend, konnte
er die Angebote des Regimes und zwar innerhalb der SS zu einem
raschen sozialen Aufstieg ueber den Status seiner Eltern hinaus
nutzen. Diese Umstaende mussten ihm aeusserst normal und attraktiv
erscheinen. Mehr oder genaueres aus dieser Zeit wissen wir allerdings
nicht.
-> Folie Passfoto aus Personalakten
Wickers Karriere als Lagerfuehrer begann wahrscheinlich
als Kommandofuehrer im KZ Cochem im Juli 1944. Nach Zeitzeugenaussagen
hatten unter seinem Kommando nicht nur die Haeftlinge, sondern
auch das Wachpersonal zu leiden. Seiner disziplinarischen Massnahmen
und sinnlosen Strenge wegen war er bei seinen Untergebenen gefuerchtet.
Er wurde von einem Soldaten der Wehrmacht spaeter als ein "ausgesprochenes
Schwein" charakterisiert [so in den Ermittlungsakten StAnw
Koblenz]. Wicker fuehrte das Lager bis zur Evakuierung Mitte
September 1944, vielleicht begleitete er die Haeftlinge auch
ins AL Nordhausen (zum KZ Mittelbau-Dora gehoerend), das waere
dann sein erster Haeftlingstransport gewesen.11
Von der Aufloesung dieses Lagers im September bis zu seinem Eintreffen
in Mannheim um Weihnachten 1944 herum sind seine Funktionen nicht
bekannt. Im Sonderbefehl des KZ Natzweiler vom 26.9.44 wurde
er, wie schon anfangs erwaehnt, als Kompaniefuehrer der 10.Wachkompanie
z.b.V. genannt. Es liegt nahe, sich ihn als aufstrebenden SS-Fuehrer
in der Rolle eines Mannes fuer Notfaelle vorzustellen.
3.2.Kompanie- und Lagerfuehrer im Bereich
Mannheim-Heppenheim-Bensheim
Die der 3. Wachkompanie zugeordneten Aussenlager
waren: Sandhofen (Arbeit fuerDaimler-Benz), Heppenheim-Auerbach
(eine Verlagerung der Firma Heymann aus Darmstadt) und das kleine
AL Heppenheim, wo die Haeftlinge Pflanzenbau fuer die Deutsche
Versuchsanstalt fuer Ernaehrung und Verpflegung betreiben mussten.
In den Zeitzeugenerinnerungen laesst sich
Wicker durch seine Koerpergroesse (ueber 1,90m) und seine Jugend
relativ leicht identifizieren.Auffaellig war auch seine Schneidigkeit
und Jugend, er war juenger als die Mehrheit der Mannheimer Haeftlinge.
In Sandhofen hat er sich in einem Nachbarhaus gegenueber dem
Lagergebaeude eingemietet. Bei Sandhofer Zeitzeugen wird er als
der typische SS-ler erinnert. 12
Eine seiner ersten Amtshandlungen in Mannheim war die Hinrichtung
von Marian Krainski auf dem Schulhof, wozu er 5 Vertreter von
Daimler-Benz eingeladen hatte. Bei diesen Herren hinterliess
er zum Teil einen unangenehmen Eindruck. Er war auch oefter im
Betrieb, wo er sogar ein Buerozimmer zugeteilt erhalten hatte.
In den Erinnerungen der Haeftlinge kommt er - hinter dem Schutzhaftlagerfuehrer
Ahrens - kaum vor. Fuer die Haeftlinge scheint sich die Lagersituation
durch ihn nicht deutlich verschlechtert zu haben. Der bisherige
Schutzhaftlagerfuehrer, ein in Konzentrationslagern altgedienter
Unterscharfuehrer, blieb ja weiterhin im Amt. Wicker hat das
bisher haeufige militaerische Exerzieren an Sonntagen nicht weitergefuehrt,
das sein Vorgaenger der ehemalige Wehrmachtshauptmann gern auffuehrt.
Eines Sonntags begegnete Wicker einem gleichaltrigen jungen polnischen
Haeftling auf dem Lagergelaende, der nach Essbarem suchte. Er
sagte ihm: Geh nicht spazieren, sondern ruh dich aus! (Marian
Marchewka PA).
Negativer ist der Eindruck, den der damalige
Heppenheimer Haeftling Ernest Gillen, (er ist Luxemburger, inzwischen
verstorben) von Wicker erhielt. Wicker hat das KZ-Außenlager
Heppenheim im Februar 1945 inspiziert, was zu seinem Aufgabenbereich
gehoerte, und dabei folgenden Eindruck hinterlassen. Das AL Heppenheim
war eine Aussenstelle der Deutschen Versuchsanstalt fuer Ernaehrung
und Verpflegung, also praktisch der Dachauer Kraeuterplantage,
die durch einen an der Uni Heidelberg beschaeftigten Hauptsturmfuehrer
betreut wurde.
"Damals kam ein junger, grosser SS-Untersturmfuehrer nach
Heppenheim. ..Er traf sich dort mit dem zustaendigen SS-HStf
Lucass [aus Heidelberg] und machte unter Begleitung desselben
eine Inspektion des Lagers. Diese Inspektion begann nach einem
einleitenden Gespraech im Buero von Lucass im Labor, das ich
"leitete" und in dem noch ein polnischer Apotheker
und ein jugoslawischer Arzt beschaeftigt waren. Der kontrollierenden
SS-Offizier verdaechtigte uns sofort verbotener Aktivitaeten,
besonders der heimlichen Herstellung von Alkohol...Die Beteuerungen
von Lucass zu meinen Gusten beendeten schliesslich diese Sache.
Nach der Inspektion kam Wicker wieder ins Labor, um seine vorher
dort abgestellte Aktentasche abzuholen. Sofort hat er dieselbe
geoeffnet und behauptet Zigaretten, die sich darin befunden haetten,
waeren verschwunden. Er hat uns dann direkt des Diebstahls dieser
Zigaretten beschuldigt, er hat uns angeschrien und uns einem
langen Verhoer unterworfen. In Wirklichkeit hatte niemand von
uns diese Aktentasche angeruehrt."
Wieder hat Lucass die Beschuldigten gerettet, indem er versprach,
die Sache gruendlich zu untersuchen und streng zu bestrafen.
Nachdem Wicker weg war, sagte er; er kenne uns und diesen Offizier
und wuerde uns mehr trauen, die Sache sei erledigt. (E.Gillen,
Brief 4.Mai 1995)
Aus den Erinnerungen des SS-Unterscharfuehrers
Stahl aus Mannheim-Feudenheim ergeben sich folgende Eindruecke.
NAchdem Stahl ans KZ-Außenlager Mannheim-Sandhofen versetzt
worden war, wurde kurz darauf Wicker "sein Kompaniefuehrer"
(so nennt er ihn): Beide waren etwa im gleichen Alter. Stahl
war jedoch von der Luftwaffe zur Waffen-SS versetzt worden. Besondere
Kontakte entstanden ausserhalb der Dienstzeit: Wicker verfuegte
ueber ein Motorrad und fuhr nach Dienstende zu einer Freundin
nach Mannheim-Feudenheim, sie war uebrigens eine Freundin von
Stahls Cousine. Ein wenig kann man hier die soziale Einbettung
eines solchen SS-Offziers ahnen. Er hatte seinen Freizeitalltag.
Sehr wahrscheinlich ist auch, dass Wicker in seiner Mannheimer
seine Eltern in Karlsruhe besucht hat. Seine Mutter behauptete
allerdings spaeter wenig plausibel, sie habe erst nach einem
halben Jahr der Ungewissheit erst wieder im April 1945 aus Dachau
von ihrem Sohn gehoert. Mit so einer Kontaktluecke konnte sie
seine Taetigkeit als KZ-Lagerfuehrer leichter verschweigen.
Mehrmals hat Wicker also seinen Unterfuehrer
Stahl auf dem Ruecksitz mitgenommen, der zu seiner Familie nach
Seckenheim wollte, wenn sie gemeinsam dienstfrei hatten.Oder
sie fuhren gemeinsam mit dem Fahrrad. Einmal sie fuhren sie die
Strecke so zusammen und als sie so nebeneinander herradelten,
fragte Wicker auf einmal ploetzlich, was er ueber die Kriegslage
denke. Stahl meinte ehrlich sein zu koennten: "Der Krieg
ist verloren!" Da sei Wicker vom Rad gesprungen und habe
ihn als Verraeter beschimpft. Im ersten Moment glaubte Stahl
gar, er wolle ihn erschiessen. Sie haetten dann nichts mehr geredet.
Von nun an habe ihm Wicker misstraut.
3.3. Anfuehrer von Evakuierungsmaerschen
Wickers Motorrad wurde dann wichtig in der
Endphase, so konnte er die Distanzen bei den Lageraufloesungen
und Maerschen bewaeltigen. Zunaechst organisierte Wicker im Maerz
den Abtransport der Sandhofer Haeftlinge. Mit einigen wenigen
Haeftlingen (sechs) und dem Rest der Sandhofer Wachmannschaft
begab er sich nach Bensheim-Auerbach zum dortigen KZ und befehligte
den Abmarsch der Haeftlinge Richtung Erbach, unterwegs sollten
die Haeftlinge das AL Heppenheim dazu stossen.
Ich zitiere aus den Erinnerungendes Luxemburger Haeftlings Ernest
Gillen:
Am 22.Maerz begann der Abmarsch des Lagers Heppenheim, unterwegs
(wahrscheinlich bei Fuerth im Odenwald) traf man auf die von
Wicker angefuehrte Gruppe mit Haeftlingen aus Bensheim und Sandhofen.13
Aus der Heppenheimer Gruppe waren unterwegs etwa 10 Haeftlinge
geflohen. Als Wicker das gemeldet wurde, loeste er sofort den
verantwortlichen SS-Uschf ab, der wurde abgefuehrt, die Rangbabzeichen
von seiner Uniform wurden entfernt. Zu den Heppenheimer Haeftlingen
sagte Wicker, sie wuerden alle wegen Meuterei umgelegt. "Wir
wurden in eine nahegelegene Wiese getrieben, mussten uns in eine
Mulde legen flach auf den Boden, das Gesicht auf dem Gras. Den
SS-Leuten, die sich im Kreise um uns herum aufstellen mussten,
gab der Untersturmfuehrer mit lauter Stimme genaue Anweisungen,
wie sie uns mit Handgranaten toetetn sollten. Dort lagen wir
und warteten in schrecklicher Todesangst auf den angekuendigten
Befehl. - Nach einer Zeitspanne, die mir eine Ewigkeit zu dauern
schien, hob ich vorsichtig den Kopf und sah, dass die SS-Wachleute
laessig herumstanden... Die Spannung liess nur langsam nach.
Erleichtert hoerten wir nach laengerer Zeit, nach Stunden, den
Befehl zum weitermarschieren."
Die Marschroute fuehrte entlang der Siegfriedstrasse
durch den Odenwald ueber Beerfelden, Eberbach nach Neckarelz.
Wicker war mit dem Motorrad unterwegs, fuhr voraus, um Quartier
oder Nahrungsmittel zu organisieren. Auf dieser Strecke scheint
es keine Todesopfer gegeben zu haben.
In Neckarelz uebernahm Wicker dann zu seiner kleinen Gruppe den
groessten Teil der dortigen Haeftlinge zur Evakuierung nach Dachau
hinzu. Es waren von nun 2007 Gefangene aus Neckarelz, Sandhofen,
Heppenheim und Bensheim. Die (398) Kranken aus Kochendorf kamen
in Waggons spaeter unterwegs dazu.14 Die Evakuierung dauerte
vom 28. Maerz , dem Mittwoch der Karwoche, bis 2.April (Ostermontag).
Der erste Teil dieser Strecke war ein dreitaegiger
Nachtmarsch nach Schwaebisch Hall mit zwei Tageshalten im Freien,
einer davon in Kupferzell.15 Zu Opfern gibt es keine eindeutigen
Angaben, der Zug hatte sich sehr auseinandergezogen, so dass
auch die Orte schwer zuzuordnen sind, der erste UEbernachtungsplatz
ist ungeklaert.
In Schwaebisch Hall wurden die Haeftlinge am 31.Maerz, am Karsamstag,
in einen Zug verladen.
Wicker scheint diesen Transport begleitet zu haben. Mindestens
bis Oberkochen (Ostersonntag) war er dabei, weil er vom dortigen
Bahnhofsvorsteher beschrieben wird:
"An der Aussenwand des Bahnhofs war damals noch ein Brunnen
mit der Aufschrift Trinkwasser. Ich weiss noch genau, wie einige
der Gefangenen mit ihren Naepfen Wasser entnehmen wollten, was
aber von dem den Zug begleitenden SS-Offizier sehr scharf verweigert
wurde. Dieser Mann, ca 1,85 gross, hagere Gestalt mit recht ruppigem
Gesicht, schwang dauernd seine Reitpeitsche und hatte einen grossen
Hund bei sich. Er patrouillierte dauernd dort hin und her, so
dass auch wir keine Moeglichkeit hatten, den Leuten Wasser zukommen
zu lassen. Dieses Gesicht habe ich bis heute nicht vergessen."
(zitiert in einem Brief von Ernest Gillen 4.5.95)
Am Ostersonntag, 1.4.45, in oder bei Oberkochen gab es einen
Zwischenfall, als ein Jagdfliegerangriff auf den Zug stattfand,
fuenf bis sieben Haeftlinge wurden getoetet. Gegen den Befehl
von Wicker, die Waggons auf jeden Fall geschlossen zu halten,
hatte Stahl in Oberkochen bei dieseem Jaboangriff erlaubt, dass
die Haeftlinge sich ausserhalb unterstellen konnten. Er musste
wegen dieses Zwischenfalls bei den Rastatter Prozessen auftreten,
gerade diese Tatsache habe ihn jedoch entlastet, zumal wie er
meint, dabei auch Haeftlinge geflohen seien.
Nach der Ankunft in Dachau am Ostermontag
ist Wicker hoechstwahrscheinlich zum Rapport zur KZ-Kommandantur
und/oder zum HSSPF nach Stuttgart gefahren. Dort muss er er den
Befehl bekommen haben, die Evakuierung des KZ Hessental zu uebernehmen.
In der Nacht vom 4. auf den 5. April (Donnerstag nach Ostern),
also zwei Tage nach der Ankunft des Neckarelzer Transports in
Dachau, kam er in Schwaebisch Hall an. Wie der damalige Bahnhofsvorstand
von Hessental, Koehler, berichtet, kam nach Mitternacht ein SS-Offizier
von Stuttgart, der den sofortigen Abtransport der Hessentaler
Haeftlinge befahl. Nach Erinnerung des Hessentaler Lagerfuehrers
Walling habe er gesagt: Acht Tage sei er "wegen dieses verfluchten
Transportes unterwegs gewesen".16 Diese Aeusserung ist eigentlich
nur sinnvoll, wenn man sie auf den vorangehenden Transport bezieht.
Er beschimpfte Walling, weil der Betten fuer die Kranken in einen
Waggon stellen liess. Wicker zeigte spaeter unterwegs waehrend
dieses Transportes ein Schreiben mit einer Vollmacht, angeblich
des Stuttgarter Polizeipraesidenten vor, hoechstwahrscheinlich
des HSSPF(Höherer SS- und Polizeiführer) in Stuttgart.17
Denn gemaess eines Himmlerbefehls sollte in der letzten Kriegsphase
die Evakuierung der Aussenlager unter der Befehlsgewalt dieser
regionalen SS-Fuehrer geschehen.18 Der damalige HSSPF Suedwest
in Stuttgart war Otto Hofmann (1896-1982), der fuer die Todesmaersche
in unserer Region die letzte Verantwortung trug. Er war einer
der wichtigsten Nazichefs, Fuehrer des Rasse- und Siedlungshauptamtes,
damit Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, kurz danach wurde er
HSSPF Suedwest (1943-45). In Nuernberg zu 25 Jahren Gefaengnis
verurteilt, kam er schon 1954 wieder frei und lebte von da an
unbehelligt.
Wahrscheinlich rechnete Wicker mit einem aehnlichen Verlauf dieses
Transportes wie bei dem einige Tage vorher. Doch da wurde der
Zug nach wenigen Kilometern bombardiert. Nun begann der Hessentaler
Todesmarsch.Darauf brauche ich wohl hier nicht naeher einzugehen.
Mit seinem Motorrad fuhr er die Strecke entlang, versuchte Quartier
zu machen und Lebensmittel zu organisieren und ist auch fuer
die Toetungsbefehle verantwortlich zu machen. Von den Zeitzeugen
in den Doerfern entlang der Marschroute wird er in sehr negativem
Licht geschildert, als brutal, ruecksichtslos, skrupellos.
Wie keiner der anderen Evakuierungsmaersche loeste sich dieser
in verschiedene Marschsaeulen auf. Die Ueberlebenden kamen zwischen
11. und 15. April vor allem in Muenchen-Allach an. Hier in Hessental
brauche ich sich nicht auf weitere Details dieses Todesmarsches
eingehen.19
Wicker begab sich an seine neue Dienststelle nach Dachau.
In Dachau
Die restlichen Wachleute seiner 3.Kompanie
(aus Mannheim, Heppenheim, Bensheim) blieben Wicker in Dachau
weiter unterstellt, wozu dann auch Angehoerige der Neckarelzer
Wachmannschaft gekommen waren. Dazu stiessen im Laufe des April
Reste anderer Kompanien, die Evakuierungen begleitet hatten:
wahrscheinlich die Wachleute von Hessental nach dem Todesmarsch,
dann nachweisbar welche aus Vaihingen (etwa 30), die einen Transport
begleitet hatten, und Neckargartach, vielleicht noch andere Natzweiler-Wachsoldaten.
Sie bildeten in Dachau die "Wicker-Gruppe" oder "Kampfgruppe
Sued" und mussten militaerisch exerzieren, u.a. an der Panzerfaust,
angeblich spaeter um gegen die Amerikaner in den Kampf geschickt
zu werden. Wicker wurde also nicht wieder zurueck nach Stuttgart
geholt, wohin sich die Kommandantur von Natzweiler zurueckgezogen
hatte, sondern er wurde offensichtlich dem KZ Dachau unterstellt.
Wahrscheinlich war die Kampfgruppe im SS-Ausbildungslager Dachau
untergebracht.
Bemerkenswert in den Zeugenaussagen zu dieser Formation ist,
dass fast alle Ehemalige der Kampfgruppe Wicker den Namen Dachau
vermeiden und eher von Bayern reden oder sagen "in der Naehe
von Muenchen".
In diesen Tagen fand in Dachau eine Art Familientreffen der Familie
Wickert statt: Seine Verlobte mit Sohn war anwesend oder wohnte
schon die ganze Zeit hier, moeglicherweise in Wickers Dienstwohnung.
Auch Wickers Mutter und Schwester waren zu Besuch in Dachau und
erlebten hier das Ende des KZ Dachau mit. Wicker war also in
diesen Tagen von drei Frauen umgeben. Der Gedanke draengt sich
auf, dass sie es waren, die ihn in diesen Tagen unterstuetzt
und gestaerkt haben, Familienkomplizen also.
Diese Ausbildung ging den April ueber bis
zum 28. April: Stahl erinnert sich an einen Appell, der
an diesem Tag stattgefunden haben duerfte. Dabei verlas Wicker
ein Schriftstueck: Die Gruppe solle sofort das KZ Dachau uebernehmen,
um es spaeter an das Rote Kreuz zu uebergeben. Sie selber wuerden
dann 24 Stunden Zeit zum Abzug haben. Darin spiegelt sich, die
Ankunft des Rot-Kreuz-Vertreters Victor Mauer wieder, der am
27.April eingetroffen war, um mit dem KZ-Kommandanten Gottfried
Weiss oder schon mit Wicker ueber die kampflose UEbergabe des
Lagers zu verhandeln und eine entsprechende Vereinbarung zu schliessen.20
Denn entweder war Weiss schon weg oder er hat sich mit der ganzen
SS- und Wachmannschaft des Lagers kurz darauf abgesetzt. Die
Kampfgruppe Wicker besetzte die Wachtuerme. Stahl war erst am
naechsten Tag eingeteilt. An diesem Morgen hat Wicker noch mit
seiner Mutter gesprochen, danach hat sie ihn nach eigenen Angaben
nicht mehr gesehen.
Stahl berichtet von diesem Sonntagmorgen noch
folgende Geschichte: Beim Appell an diesem Sonntagmorgen, dem
29.4.45, habe Wicker versucht, ihm, also Stahl selber, das Kommando
zu uebergeben und sich mit einigen Leuten davon zu machen. Dagegen
haetten er und andere sich gewehrt. Entweder sollten alle zusammen
abruecken oder alle dableiben. Da sei Wicker zurueckgewichen
und hat seine SS-Rolle weitergespielt.
Kurz darauf hat Stahl seine Wachschicht angetreten auf dem Wachturm
G, das war der naechste suedoestlich des Jourhauses. (Plan) Er
sollte nicht mehr abgeloest werden: Am spaeten Nachmittag dieses
Sonntags wurde das KZ Dachau befreit.
[Folie]: Plan des Lagers Verlauf des amerikanischen
Vormarsches und die Konkurrenz zweier Einheiten bei der Befreiung
des Lagers
Was genau Wicker an diesem Tag getan hat,
ist wenig bekannt. Er muss jedoch in Verhandlungen mit einem
Delegierten des Roten Kreuzes gestanden haben, dem Schweizer
Staatsangehoerigen Victor Maurer. Diesem gelang es, ihn zur kampflosen
UEbergabe des KZ an die bereits in umittelbarer Naehe befindlichen
Amerikaner zu ueberreden.
Eine Erkundungseinheit mit mehreren Jeeps
unter dem Brigadegeneral Linden war nach 16 Uhr von der Stadt
Dachau losgefahren in Richtung KZ. Kurz vor dem Lager waren sie
auf einen Gueterzug gestossen, in dem ueber 2000 Haeftlingsleichen,
Muell, Kleiderreste lagen. Dieser Zug mit offenen Waggons war
3 Wochen von Buchenwald unterwegs gewesen und am Vortag in Dachau
eingetroffen. Kopfschuettelnd beobachteten die Amerikaner, wie
deutsche Zivilisten, darunter auch Kinder, mit Waegen und Fahrraedern
daran vorbeifuhren, die in der Naehe ein Magazin gepluendert
hatten.
Die Wut einer anderen kurz vorher hier vorbeifahrenden amerikanischen
Kampfeinheit fuehrte wenig spaeter zu einem Exzess. Kriegsberichterstatter
Bill Barrett schrieb in der neubegruendeten Bayerischen Landeszeitung
am 25.Mai 1945: "Als unsere Soldaten am Nachmittag gegen
16 Uhr diese grauenhafte Entdeckung machten, entschlossen sie
sich sofort, gegen das Lager vorzugehen... Sie begriffen, woher
der fuerchterliche Gestank kam, der in ihre Nasen stieg, als
sie den ersten geschlossenen Wagen erreichten. Hunderte von Koerpern
wurden in den 30 Gueterwaegen aufgefunden. [...] "Ich sah
nie zuvor die Leute in einer solchen Stimmung", sagte ein
Leutnant spaeter. "Die Maenner waren wutentbrannt, sie liefen
die Lagerstrassen entlang ohne Ruecksicht auf Deckung..."21
Dabei geht es um das SS-Ausbildungslager, nicht um das KZ.
Die Wut fuehrte kurz darauf einer spontanen Erschiessung von
SS-Leuten an der Wand des Kohlenhofs des Lagerkomplexes. Diese
SS-Leute hatten sich bereits ergeben. Dieser Verstoss gegen das
Kriegsrecht wurde in den Wochen danach von einem amerikanischen
Untersuchungsoffizier recherchiert, die Zahl der hier Erschossenen
lag bei etwa 30. Darunter koennen sich auch ehemalige Wachleute
der baden-wuerttembergischen Natzweiler-Aussenlager befunden
haben.
Zurueck zur Einheit von General Linden, die
sich von Suedwesten dem Haeftlingslager naeherte. In einem der
Jeeps, die seine Erkundungseinheit bildete, sass der belgische
Journalist Paul M.G. Levy als Kriegsberichterstatter22. Er beschreibt
die nun folgende Szene in einem Zeitungsartikel vom 4.Mai 1945:
"Eine weisse Fahne wehte auf dem Turm...Wir rueckten vor.
In diesem Moment kam ein Zivilist mit weisser Fahne und einer
Rot-Kreuz-Binde heraus, gefolgt von einem SS-Leutnant und einem
SS-Soldat." Diese Szene spielte sich um 16.50 auf dem Eicke-Platz
kurz vor dem Haupteingang des Lagerkomplexes ab. Hier kommt Wicker
wieder in unser Blickfeld auf einem Foto:
Amerikanische Fotos 1-3 Interpretation
der Fotos
Eicke-Platz zusammen mit dem Rot-Kreuz-Vertreter Maurer mit weisser
Fahne. Das war der Zeitpunkt der offiziellen Uebergabe des KZ
Dachau.
In seinem Gedenkartikel ein Jahr spaeter ergaenzte
Levy: Der Rot-Kreuz-Delegierte kam "mit zwei SS-Leuten,
die die Haende ueber dem Kopf zusammengelegt hatten...
Die SS-Leute waren ueberheblich. Natuerlich, sie haetten sie
noch Maenner im Lager; sicher, diese Maenner seien bewaffnet,
sie wuerden sich nur von Amerikanern in Waffen abloesen lassen;
die Haeftlinge seien viel zu gefaehrlich, als dass man sie einfach
so verlassen koennte..."23
Wicker bedient den Sicherheitsdiskurs, der in der Selbstlegitimierung
der SS und auch zur Loyalitaet und Komplizenschaft mit dem KZ-System
der deutschen Bevoelkerung eine grosse Rolle gespielt haben muss.
Haeufig wird die Gefahr fantasiert, die von den Haeftlingen ausgehen
koennte. Im Bereich des KZ Mittelbau werden Diebstaehle, auch
Morde gezielt angeblich geflohenen KZ-Haeftlingen in die Schuhe
geschoben.24 So werden die Gefangenen nicht als Opfer wahrgenommen,
sondern ihr Bild geht in dem eines Gewalttaeters, Verbrechers
auf. Das rechtfertigt die praeventive Brutalitaet der SS.
Ausserdem fuehrte sich Wicker in seiner Vorstellung als Soldat
ein: er sei erst am Tag zuvor von der Front ins Lager versetzt
worden. So umschrieb er seine Funktion in der "Kampfgruppe
Wicker". In den Darstellungen der ehemaligen US-Militaers
taucht Wicker deshalb bis heute als unbeschriebenes Blatt auf.
Nach dem Paul M.G. Levy verlangte General Linden nun Erklaerungen
fuer den Todeszug. Als Wicker behauptete, nichts zu wissen, wurde
Wicker zu diesem Zug gefuehrt, der auf dem Geleise vor dem Lagergelaende
stand. In dem Todeszug aus Buchenwald mit 39 Waggons lagen noch
ueber zweitausend Leichen der Haeftlinge, die den dreiwoechigen
Transport nicht ueberlebt hatten. (Bertrand 1999; Dachau Memorial
Site). Wicker wurde vor den Waggons fotografiert, um das Verbrechen
zu dokumentieren. Er behauptete, nichts davon gewusst zu haben.
Dieses Foto ist gewissermassen eine Inszenierung, es wurde gemacht
im Bewusstsein, dass ein Lager wie Dachau fuer Massenmord steht.
Bilder mit Leichenbergen aus Bergen-Belsen, Buchenwald und Ohrdruf
waren in den Monaten vorher um die Welt gegangen. Dieses Bild
ist moeglicherweise das erste (vielleicht das einzige), das das
Motiv Leichenberg mit einem Verantwortlichen zeigt. Der amerikanische
Soldat steht als Beglaubigung daneben, was bisher bereits oft
beim Fotografieren als Motiv benutzt wurde.25 Vielleicht aus
dem gleichen Grund stellte sich der Rot-Kreuz-Delegierte dazu.
Das Bild scheint damals allerdings in Deutschland nicht veroeffentlicht
worden zu sein, sonst haette die Figur dieses SS-Offiziers schon
frueher Interesse erregt. Ich kenne auch keinen Hinweis darauf,
ob es ueberhaupt damals nach 1945 veroeffentlicht wurde. Inzwischen
ist es relativ bekannt, man sieht es oefter im Zusammenhang der
Dachauer KZ-Geschichte.
Foto 4 Todeszug
Der Zusammenhang zu dem zeitlich letzten Foto
[Foto 5] ist nicht ganz klar. Brigadegeneral Linden von der Chef
der 42. Division "Rainbow", steht mit Wicker vor dem
Jourhaus. Es ist wohl das das letzte Lebenszeichen, das es von
dem ehemaligen Sandhofer Lagerfuehrer gibt. Inzwischen waren
die Wachturm-Besatzungen gefangengenommen worden. Zuerst war
der Turm G dran gewesen, wo der ehemalige Sandhofer Unterscharfuehrer
Stahl das Kommando hatte. Die Amerikaner forderte Turmbesatzung
herunterzukommen und die Waffen abzulegen. Stahl war mit seinen
Leuten schreckensbleich von seinem Turm G entlang des Zauns,
wo schon die schreienden, schimpfenden Haeftlinge standen, zum
Jourhaus gegangen, - die schrecklichsten Minuten seines Lebens,
wie er sagt. Die Mannschaft eines anderen Wachturms, des Turms
B, waren von amerikanischen Soldaten erschossen worden, moeglicherweise
hatten sie sich nicht gefuegt oder es war zu einer Kurzschlussreaktion
der amerikanischen Soldaten gekommen.
Das Foto ist etwa eine Stunde nach dem ersten
aufgenommen worden. Es zeigt die aktionsreichste Szene der Serie:
den Eingang des Jourhauses, das Tor mit der beruechtigten Inschrift
"Arbeit macht frei" ist schon geoeffnet. Haeftlinge
haben das Jourshaus besetzt, Die Situation hätte zu diesem
Zeitpunkt unkontrollierbar werden koennen. Die persoenliche Wache
des Generals haelt das Gewehr im Anschlag. General Linden selber
ist auf die Bruestung der Wuermbruecke gestiegen und hat vielleicht
eine Pistole in der Hand, mit der anderen Hand scheint er Anweisungen
zu unterstreichen, moeglichweise an die inzwischen angekommenen
Einheiten, die die Lagersicherung uebernehmen sollen. Jedenfalls
drehen sich mehrere Personen in die Richtung seiner Hand, auch
Wicker, dessen Rolle hier schwer erklaerbar ist. Wie auch auf
den meisten anderen Bildern hält Wicker hier die Hände
auf dem Rücken. War er vielleicht gefesselt?
Was ist mit Wicker dann passiert? Die gefangenen
Wachleute wurden vor das Lager gefuehrt und mussten sich dort
auf den Boden setzen (moeglicherweise auf dem Eicke-Platz). Mehrere
von den ehemaligen Angehoerige der Kampfgruppe Wicker sagten
bei den staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen in den 60er Jahren
aus, dass Wicker in Dachau von den Amerikanern getoetet worden
sei. Zwei, darunter Stahl, haben gesehen, wie er von US-Soldaten
aus der Gruppe der Wachleute herausgeholt und in ein Haus gefuehrt
worden sei. Darauf habe man Schuesse gehoert, sie haetten ihn
danach nicht mehr gesehen. In seinem neuen Buch "Legacies
of Dachau" geht Howard Marcuse davon aus, dass Wicker erschossen
worden ist. Er beruft sich darin anscheinend auf Haeftlingsbeobachtungen.26
Insgesamt sind am Befreiungstag des KZ Dachau etwa 40 bis 50
SS- und Wachleute von den Amerikanern erschossen worden. Zu diesen
Vorfaellen sind in den Wochen darauf innerhalb der 7.Armee Untersuchungen
gelaufen, offenbar jedoch nicht zu einer Erschiessung von Wicker.
Waehrend die anderen Toetungen sich als "Schock- und Kurzschlussreaktionen"
(Juergen Zarusky) einzelner US-Soldaten darstellen, haette sein
Tod nach dem UEbergaberitual und seiner Vorfuehrung vor den Journalisten
schon etwas von einer Hinrichtung unweit von, aber ohne
Wissen der UEberlebenden des Todesmarsches.
Die Angehoerigen erklaerten Heinrich Wicker fuer verschollen,
wobei sie das moeglicherweise genauer gewusst haben. Bei der
Entnazifizierung konnte die Familie seine gesamte KZ-Taetigkeit
und auch die Evakuierungsmaersche verschweigen. Die Eltern bezogen
1951 bis 1959 eine Elternrente, ebenso erhielt sein unehelicher
Sohn eine Waisenrente. Zu diesem Zeitpunkt war er offenbar fuer
tot erklaert worden.
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1. Peter Koppenhöfer: Ein KZ als Verhaltensmodell?,
in: Dachauer Hefte Nr.12 (1996)
2. Jens Christian Wagner, S.564
3. Alfred Hoffmann: Verschwunden aber nicht vergessen. KZ-Nebenlager
in der Polizeischule Heidenheim. Eine Dokumentation. Heidenheim
1996, S.131.
4 Viele werden in der jeweilige Literatur zu den Aussenlagern
wenigstens erwaehnt, teilweise anonymisiert: Vgl. Baur/Woerner
S.120ff; H.Grosspeter passim; M.Grandt, S.150ff.; M. Schmid,
S.41; Kaiser/Knorn, S.141ff
5. Dies kommt auch in Aeusserungen von Arnold Brendler, dem durch
mehrere KZs gegangenen spaeteren Leonberger Lagerleiters Brendler
zum Ausdruck. J.Baur/B.Woerner 2001, S.114
6. Vgl. Ernst Gillen ueber den Kontrollbesuch eines auswaertigen
SS-Offiziers (= H.Wickers) im AL Heppenheim K.Giebeler/C:Schubert
1998,S.46. Die anderen Konzentrationslager scheinen uebrigens
eine aehnliche Struktur der SS-Offiziere als Kompaniefuehrer
und Chefs mehrerer Aussenlager gehabt zu haben. Vor allem deutlich
bei Neuengamme: Froebe u a KZ in Hannover Band I,S. 76 f. - Mittelbau-Dora:
Jens Christian Wagner, S.328ff.
7. So in Mannheim-Sandhofen: der Kompanieschreiber Josef Hoefele
hatte ein angemietetes eigenes Zimmer als Schreibstube in der
Strasse, wo das KZ lag.
8. Es wurden fuenf Gespraeche gefuehrt in den Jahren 1986 bis
1990. Nach anfänglicher Zurueckhaltung war Herr Stahl glaubhaft
auskunftbereit. Ich habe ihm versprochen Vornamen und Geburtsdatum
nicht bekanntzugeben. Viele seiner Erinnerungen haben sich inzwischen
durch andere Quellen bestaetigt.
9. J.H.Linden 1997; Dachau Memorial Site; Harold Marcuse 2001.
10. BA Ludwigsburg 419 AR-Z 171/1969 Zum Hessentaler Todesmarsch
und Heinrich Wicker
11. Heimes, Ernst: Das Aussenlager des KZ Natzweiler in Cochem/Mosel
mit seinen Lagern Bruttig und Treis
In: Meyer/Berkessel Bd 2, 268-275
12. Frieda Wunderle, Ruth Bohrmann, Irmgard Thaler - PA
13. Ernst Gillen in Giebeler/Schubert 1998, S.47
14. KZ Museum Dachau Raeumungstransporte aus dem Bereich KL Natzweiler,
zit. bei Heinz Risel: KZ in Heilbronn. Das SS-Arbeitslager Steinbock
in Neckargartach. Nordheim 1987 (Selbstverlag)
15. Ernst Gillen in Giebeler/Schubert 1998, S.47 und Brief vom
4.5.1995; L.Lefrançois 2001; Stanislaw Kawka und Jerzy
Bielinski, PA
16. Koziol, S.120
17. S.Koziol 1986, S.120; Zur Vollmacht: ZSL 419 ARZ 171/1969,
Bl.271
18. Daniel Blatman 1998, S.1068 f
19. Die Zahl der Todesfälle während des Marsches ist
unbekannt. Sicher waren es mehrere Hundert.
20. J.Zarusky 1997, S. 34 f.
21. Faksimile des Artikels in H.Knoch, S 141: Der Artikel hat
die UEberschrift: "Dachau: Gueterwagen voll Leichen wiesen
den Weg" Er benutzt keine Dachauer Fotos.
22. Baron Paul M.G. Levy wurde wenige Jahre danach der erste
Direktor fuer Information der Europarats, wo er eine sehr grosse
Rolle spielte. Beispielsweise ist er der Erfinder er EU-Flagge.
Danach war er als Professor in Strassburg und in Belgien taetig.
Er starb erst 2002, nachdem er kurz zuvor vom belgischen Koenig
geadelt worden war.
23. Franzoes.Original, abgedruckt in J.H. Linden 1997, S.111f
24. Jens Christian Wagner, S
25. Habbo Knoch, S.132 ff.
26. H.Marcuse 2001, S.5. Vgl. auch Juergen Zarusky 1997, S.53
ueber eine moegliche Erschiessung von Wicker.
Quellen und Literatur
BA LB (fruehere Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen,
Ludwigsburg = ZSL):
Zum Hessentaler Todesmarsch und Heinrich Wicker: 419 AR-Z 171/1969
Privatarchiv der Erinnerungen ehemaliger Haeftlinge des KZ Mannheim-Sandhofen
sowie von einheimischen Zeitzeugen (beim Autor): Alle Interviews,
Fragebogen und Briefe werden im folgenden zitiert unter: Name,
PA
Internetquellen
Dachau Memorial Site: http://www.scrapbookpages.com/DachauScrapbook/index.html
Schilderung einer Gegenposition zu General Linden
LITERATUR:
Blatman, David: Die Todesmaersche. Entscheidungstraeger,
Moerder, Opfer, in: Herbert/K.Orth/C.Dieckmann (Hg.) Die nationalsozialistischen
Konzentrationslager Entwicklung und Struktur, Bd.II Goettingen
1998, S.1063ff
Baur, J./Woerner, B.: Konzentrationslager und Zwangsarbeit in
Leonberg, Leonberg 2001
Bertrand, François; Der Todeszug nach Dachau; in: Dachauer
Hefte 15 (1999), S.17ff.
Ernst, Detlef/Riexinger, Klaus: Vernichtung durch Arbeit. Die
Geschichte des KZ Kochendorf /Aussenkommando des KZ Natzweiler-Strufhof.
Bad Friedrichshall 1996
Gedenkpfad Eckerwald. Das suedwuerttembergische Schieferoelprojekt
und seine sieben Konzentrationslager.
Das Lager Schoerzingen und sein Aussenkommando Zepfenhan. O.J.
Deisslingen-Laufen Grosspeter, Hanns: Mit dem Ruecken zur
Wand. Autobiographische Erzaehlungen vom Alltag und UEberleben
im Konzentrations-Revierlager Vaihingen an der Enz. In: Schriftenreihe
der Stadt Vaihingen a.d. Enz, Bd 4 (1985), S.179ff.
Hagenbourger, Julien/Lempp, Gerhard: Aus schwerem Traum erwachen.
Deisslingen-Lauffen 1999
Heimes, Ernst: Ich habe immer nur den Zaun gesehen. Suche nach
dem KZ-Aussenlager Cochem, 2.Aufl. Koblenz 1993
Heimes, Ernst: Das Aussenlager des KZ Natzweiler in Cochem/Mosel
mit seinen Lagern Bruttig und Treis, In: Hans-Georg Meyer, Hans
Berkessel (Hg.): Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz
Bd 2.
Fuer die Aussenwelt seid ihr tot. Mainz 2000, S. 268-275
Hoffmann, Alfred: Verschwunden aber nicht vergessen. KZ-Nebenlager
in der Polizeischule Heidenheim. Eine Dokumentation. Heidenheim
1996
Knoch, Habbo: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in
der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2001
Koziol, Michael Sylvester: Ruestung, Krieg und Sklaverei.Der
Fliegerhorts Schwaebisch Hall-Hessental und das
Konzentrationslager. Sigmaringen 1986
Lefrançois, Louis: Dachau matricule 77044, Cancale 2001
Linden, John H. Surrender of the Dachau Concentration Camp 29
Apr 45. The True Account, Elm Grove 1997
Marcuse, Howard: Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a
Concentration Camp, 1933-2001, Cambridge 2001
Pawlak, Zacheusz: Ich habe ueberlebt. Hamburg 1979
Risel, Heinz: KZ in Heilbronn. Das SS-Arbeitslager Steinbock
in Neckargartach. Nordheim 1987 (Selbstverlag
Wagner, Jens-Christian: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora
Goettingen 2001
Zarusky, Juergen: "That is not the American Way of Fighting".
Die Erschiessungen gefangener SS-Leute bei der Befreiung des
KZ Dachau, in: Dachauer Hefte 13 (1998), S.27-55
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