SS-Untersturmführer Heinrich Wicker

2nd Lt. Heinrich Wicker is the third man from the left

The article below is the text of a lecture given by a German historian, Peter Koppenhoefer, who gave us permission to print it here. The photos shown during the lecture are not included.

 

Peter Koppenhoefer, Koenigsberger Str.8, D-68723 Schwetzingen

pkoppenhoefer@aol.com

 

Blick auf einen Taeter: Heinrich Wicker, ein SS-Offizier zwischen Natzweiler, Hessental und Dachau

1.Einleitung: Taeterorientierung

Seit einiger Zeit gibt es bei der Beschaeftigung mit dem NS eine Gewichtsverlagerung auf die Taeter. Browning, Goldhagen sind dafuer bekannte Namen. Hierher gehoert auch der auf "normale Deutsche" zentrierten Forschungsansatz von Hartmut Welzer: "Opa war kein Nazi". Ich selber habe am Beispiel des KZ Sandhofen einen Aufsatz ueber Kollaboration und Komplizenschaft der normalen Bevoelkerung mit der Konzentrationslager-SS geschrieben, der versucht die Normalitaetsordnungen ein wenig aufzuloesen.1 Es zeigt sich dabei, dass die Grenzen zwischen KZ-Normalitaet und der Umgebungsnormalitaet, also dem damals normalen Leben im Stadtteil sehr viel weniger scharf waren, als es heute von fast allen Deutschen fantasiert wird. Das Leben der damaligen Deutschen hatte sich in ihrer "Gewaltbereitschaft und kollektiven Komplizenschaft"2 sehr an die SS-Systeme angenaehert.
Eine Nazi-Taeterbetrachtung steht vor der Gefahr, das zu betonen, was man selbst nicht ist. In den Worten von Hartmut Welzer: "die Taeterforschung ist in diesem Sinn psychologisch durch ein Distanzierungsbemuehen gekennzeichnet, das einen moeglichst grossen Abstand zwischen den Taetern und ,uns' herzustellen geeignet ist." Das muessen wir im folgenden festzuhalten, wenn versucht wird einmal einen SS-Offizier des Natzweiler KZ-Systems in den Mittelpunkt zu stellen. Welzer empfiehlt, die Taeter nicht als Moerder, sondern als Menschen, die morden zu sehen.

2.Sonderbefehl 26.9.44: Reorganisation des KZ Natzweiler nach seinem Umzug

Folie Dokument Sonderbefehl

Dies war vielleicht das erste der nun folgenden Dokumente, in dem der Briefkopf nur mehr fingiert ist: bis zum Kriegsende wird weiterhin "Natzweiler" als Adresse benutzt. Allerdings kann der der Brief tatsaechlich noch in Natzweiler geschrieben worden, aber es waren keine Haeflinge mehr da, als erstes Konzentrationslager war dieses ganz in seinen Aussenlager aufgegangen.
Merkwuerdig an diesem Befehl ist auch, dass die ganzen westlichen Aussenlager fehlen ausser Rotau. Das linksrheinische Gebiet war damit praktisch vorzeitig aufgegeben, obwohl z.B. das kleine Aussenlager Oberehnheim noch Ende Oktober/ Anfang November 1944 erwaehnt wird.3. Hessental fehlt, weil es erst ab November eroeffnet wurde. Dagegen erwaehnt der Sonderbefehl eine ganze Reihe von KZ Aussenlagern, die nicht mehr zustande kamen, z.B. in Pforzheim, Kirchheim/Teck und Mauserwerke Oberndorf.
Der Erlass hatte offensichtlich u.a. die Funktion, die Organisation des KZ Natzweiler nach der Aufgabe des Stammlagers neu zu begruenden. Dabei sollten die SS-Offiziere eine entscheidende Rolle als Rueckgrat der Verwaltung spielen. Fuer sie enthaelt der Sonderbefehl eine Beschreibung ihrer Disziplinarstrafgewalt und Auflistung der Strafen.

Benannt werden in dem Befehl 11 Offiziere.4
Maier, Emil Ostf Natzweiler
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Kommandofuehrer und Kompaniechefs

Brendler, Arnold 1916 Ustf SS Frankfurt -> Leonberg
Waldmann,Bernhard 1896 Hstf Wehrm Mannheim, Heppenheim, Bensheim -> Kaltenkirchen
Hoffmann, Franz 1906 Hstf SS Neckarelz , -> Oktober Wueste-Lager
Streit, Wilhelm Hstf Wehrm Neckargerach, dann Neckarelz-Gesamtfuehrer
Lautenschlager , Wilhelm Hstf Wehrm Vaihingen, Kochendorf, Neckargartach, Iffezheim
Schaack 1893 Hstf Wehrm Leonb Echterd Hailf Geisl, Wasseralf -> Frankfurt
Schnellenbach Hstf Wehrm Dautmergen, Bisingen
Wurth, Eugen Ustf ? Schoemberg ua Spaichingen, Haslach
Wicker, Heinrich 1921 Ustf SS zbV zur besonderen Verwendung
Schaaf Hstf ? zbV

Die Reorganisation des KZ-Netzes von Natzweiler war verbunden mit der Uebernahme von sechs oder sieben Wehrmachts- oder Luftwaffen-Hauptleute, die nach diesem Sonderbefehl Hauptsturmfuehrer ( und KZ-Chefs) gewordenwaren.
Es deutet einiges darauf hin, dass die neuen zumindest anfaengliche Distanz zur SS und den alten SS-Hasen pflegten. Dafuer gibt es einige Hinweise, zum Beispiel, dass sie sehr lange oder die ganze Zeit in ihren alten Uniformen blieben. Umgekehrt waren die ihnen unterstellten SS-Offiziere und Unteroffiziere sauer, wie sich der Leonberger Lagerfuehrer erinnert, weil sie nun solchen Leuten gehorchen zu mussten.5
Noch nicht geklaert scheint mir, welche Rolle die Kompaniefuehrer der Wachleute fuer die Aussenlager selber spielten. In den Nachkriegsvernehmungen haben sie verstaendlicher Weise Gewicht darauf gelegt, nur oder fast ausschliesslich fuer den Wachdienst zustaendig gewesen zu sein. Es gibt jedoch eine Reihe von Belegen, dass diese Offiziere auch jeweils fuer die Reihe der Aussenlager zustaendig waren, die der Sonderbefehl aufzaehlt, d.h. auch in deren innerem Bereich.6 Die Aussenlager hatten in der Regel Kommandofuehrer oder Schutzhaftlagerfuehrer im Rang von Unteroffizieren, die ihre Berichte direkt an die Zentrale leisteten, die Kompaniefuehrer hatten keinen eigenen Buerostab fuer die unterstellten AL, nur eine Kompanieschreibstube bzw. wie der Sonderbefehl es nennt: einen "Rechnungsfuehrer".7

3. HeinrichWicker als Beispiel

Die folgenden Anmerkungen benuetzen zum Teil einige schon von 1986 an gefuehrte Gespraeche mit dem Unterscharfuehrer Stahl, Mitglied der Sandhofer Wachmannschaft und unmittelbarer Untergebener des zweiten Sandhofer Lagerfuehrers und Kompaniechefs Wicker.8 Stahl erzaehlte damals ziemlich viel, aber erst parallele Aussagen in den Ludwigsburger Akten z.B. zum Hessentaler Todesmarsch bestaerkten darin, diesem Zeugen zu vertrauen. Dazu kommen neuere amerikanische Veroeffentlichungen ueber die Befreiung von Dachau.9

3.1. Laufbahn
Heinrich Wicker wurde 1921 in Gausbach bei Gernsbach als Sohn eines Handwerkers und spaeteren Reisenden geboren, sprach also deutsch mit badischem Akzent. Er besuchte die Volksschule und dann die Handelsschule, weil er Kaufmann werden wollte. Natuerlich war er mit seinem Geburtsjahr in der HJ. Schon mit 15, unmittelbar vor seinem 16. Geburtstag (1937) trat er in die SS ein, war im Krieg bei einer SS-Panzereinheit. Nach einer Verwundung wurde er 1943 als Oberscharfuehrer zur Amtsgruppe D versetzt und nach Lehrgaengen fuer SS-Fuehrerbewerber an der SS-Junkerkschule Bad Toelz Anfang 1944 mit 22 Jahren zum Untersturmfuehrer befoerdert, stand also im Rang eines Leutnants mit der Anwartschaft auf eine weitere Karriere.10
Diese Biografie zeigt also einen Menschen, der zwar nicht seine Kindheit, aber doch als Heranwachsender voll dem NS-Ideologieapparat ausgesetzt war. Aus deklassierten Verhaeltnissen stammend, konnte er die Angebote des Regimes und zwar innerhalb der SS zu einem raschen sozialen Aufstieg ueber den Status seiner Eltern hinaus nutzen. Diese Umstaende mussten ihm aeusserst normal und attraktiv erscheinen. Mehr oder genaueres aus dieser Zeit wissen wir allerdings nicht.

-> Folie Passfoto aus Personalakten

Wickers Karriere als Lagerfuehrer begann wahrscheinlich als Kommandofuehrer im KZ Cochem im Juli 1944. Nach Zeitzeugenaussagen hatten unter seinem Kommando nicht nur die Haeftlinge, sondern auch das Wachpersonal zu leiden. Seiner disziplinarischen Massnahmen und sinnlosen Strenge wegen war er bei seinen Untergebenen gefuerchtet. Er wurde von einem Soldaten der Wehrmacht spaeter als ein "ausgesprochenes Schwein" charakterisiert [so in den Ermittlungsakten StAnw Koblenz]. Wicker fuehrte das Lager bis zur Evakuierung Mitte September 1944, vielleicht begleitete er die Haeftlinge auch ins AL Nordhausen (zum KZ Mittelbau-Dora gehoerend), das waere dann sein erster Haeftlingstransport gewesen.11
Von der Aufloesung dieses Lagers im September bis zu seinem Eintreffen in Mannheim um Weihnachten 1944 herum sind seine Funktionen nicht bekannt. Im Sonderbefehl des KZ Natzweiler vom 26.9.44 wurde er, wie schon anfangs erwaehnt, als Kompaniefuehrer der 10.Wachkompanie z.b.V. genannt. Es liegt nahe, sich ihn als aufstrebenden SS-Fuehrer in der Rolle eines Mannes fuer Notfaelle vorzustellen.

3.2.Kompanie- und Lagerfuehrer im Bereich Mannheim-Heppenheim-Bensheim

Die der 3. Wachkompanie zugeordneten Aussenlager waren: Sandhofen (Arbeit fuerDaimler-Benz), Heppenheim-Auerbach (eine Verlagerung der Firma Heymann aus Darmstadt) und das kleine AL Heppenheim, wo die Haeftlinge Pflanzenbau fuer die Deutsche Versuchsanstalt fuer Ernaehrung und Verpflegung betreiben mussten.

In den Zeitzeugenerinnerungen laesst sich Wicker durch seine Koerpergroesse (ueber 1,90m) und seine Jugend relativ leicht identifizieren.Auffaellig war auch seine Schneidigkeit und Jugend, er war juenger als die Mehrheit der Mannheimer Haeftlinge. In Sandhofen hat er sich in einem Nachbarhaus gegenueber dem Lagergebaeude eingemietet. Bei Sandhofer Zeitzeugen wird er als der typische SS-ler erinnert. 12
Eine seiner ersten Amtshandlungen in Mannheim war die Hinrichtung von Marian Krainski auf dem Schulhof, wozu er 5 Vertreter von Daimler-Benz eingeladen hatte. Bei diesen Herren hinterliess er zum Teil einen unangenehmen Eindruck. Er war auch oefter im Betrieb, wo er sogar ein Buerozimmer zugeteilt erhalten hatte.
In den Erinnerungen der Haeftlinge kommt er - hinter dem Schutzhaftlagerfuehrer Ahrens - kaum vor. Fuer die Haeftlinge scheint sich die Lagersituation durch ihn nicht deutlich verschlechtert zu haben. Der bisherige Schutzhaftlagerfuehrer, ein in Konzentrationslagern altgedienter Unterscharfuehrer, blieb ja weiterhin im Amt. Wicker hat das bisher haeufige militaerische Exerzieren an Sonntagen nicht weitergefuehrt, das sein Vorgaenger der ehemalige Wehrmachtshauptmann gern auffuehrt. Eines Sonntags begegnete Wicker einem gleichaltrigen jungen polnischen Haeftling auf dem Lagergelaende, der nach Essbarem suchte. Er sagte ihm: Geh nicht spazieren, sondern ruh dich aus! (Marian Marchewka PA).

Negativer ist der Eindruck, den der damalige Heppenheimer Haeftling Ernest Gillen, (er ist Luxemburger, inzwischen verstorben) von Wicker erhielt. Wicker hat das KZ-Außenlager Heppenheim im Februar 1945 inspiziert, was zu seinem Aufgabenbereich gehoerte, und dabei folgenden Eindruck hinterlassen. Das AL Heppenheim war eine Aussenstelle der Deutschen Versuchsanstalt fuer Ernaehrung und Verpflegung, also praktisch der Dachauer Kraeuterplantage, die durch einen an der Uni Heidelberg beschaeftigten Hauptsturmfuehrer betreut wurde.


"Damals kam ein junger, grosser SS-Untersturmfuehrer nach Heppenheim. ..Er traf sich dort mit dem zustaendigen SS-HStf Lucass [aus Heidelberg] und machte unter Begleitung desselben eine Inspektion des Lagers. Diese Inspektion begann nach einem einleitenden Gespraech im Buero von Lucass im Labor, das ich "leitete" und in dem noch ein polnischer Apotheker und ein jugoslawischer Arzt beschaeftigt waren. Der kontrollierenden SS-Offizier verdaechtigte uns sofort verbotener Aktivitaeten, besonders der heimlichen Herstellung von Alkohol...Die Beteuerungen von Lucass zu meinen Gusten beendeten schliesslich diese Sache.
Nach der Inspektion kam Wicker wieder ins Labor, um seine vorher dort abgestellte Aktentasche abzuholen. Sofort hat er dieselbe geoeffnet und behauptet Zigaretten, die sich darin befunden haetten, waeren verschwunden. Er hat uns dann direkt des Diebstahls dieser Zigaretten beschuldigt, er hat uns angeschrien und uns einem langen Verhoer unterworfen. In Wirklichkeit hatte niemand von uns diese Aktentasche angeruehrt."
Wieder hat Lucass die Beschuldigten gerettet, indem er versprach, die Sache gruendlich zu untersuchen und streng zu bestrafen. Nachdem Wicker weg war, sagte er; er kenne uns und diesen Offizier und wuerde uns mehr trauen, die Sache sei erledigt. (E.Gillen, Brief 4.Mai 1995)

Aus den Erinnerungen des SS-Unterscharfuehrers Stahl aus Mannheim-Feudenheim ergeben sich folgende Eindruecke. NAchdem Stahl ans KZ-Außenlager Mannheim-Sandhofen versetzt worden war, wurde kurz darauf Wicker "sein Kompaniefuehrer" (so nennt er ihn): Beide waren etwa im gleichen Alter. Stahl war jedoch von der Luftwaffe zur Waffen-SS versetzt worden. Besondere Kontakte entstanden ausserhalb der Dienstzeit: Wicker verfuegte ueber ein Motorrad und fuhr nach Dienstende zu einer Freundin nach Mannheim-Feudenheim, sie war uebrigens eine Freundin von Stahls Cousine. Ein wenig kann man hier die soziale Einbettung eines solchen SS-Offziers ahnen. Er hatte seinen Freizeitalltag. Sehr wahrscheinlich ist auch, dass Wicker in seiner Mannheimer seine Eltern in Karlsruhe besucht hat. Seine Mutter behauptete allerdings spaeter wenig plausibel, sie habe erst nach einem halben Jahr der Ungewissheit erst wieder im April 1945 aus Dachau von ihrem Sohn gehoert. Mit so einer Kontaktluecke konnte sie seine Taetigkeit als KZ-Lagerfuehrer leichter verschweigen.

Mehrmals hat Wicker also seinen Unterfuehrer Stahl auf dem Ruecksitz mitgenommen, der zu seiner Familie nach Seckenheim wollte, wenn sie gemeinsam dienstfrei hatten.Oder sie fuhren gemeinsam mit dem Fahrrad. Einmal sie fuhren sie die Strecke so zusammen und als sie so nebeneinander herradelten, fragte Wicker auf einmal ploetzlich, was er ueber die Kriegslage denke. Stahl meinte ehrlich sein zu koennten: "Der Krieg ist verloren!" Da sei Wicker vom Rad gesprungen und habe ihn als Verraeter beschimpft. Im ersten Moment glaubte Stahl gar, er wolle ihn erschiessen. Sie haetten dann nichts mehr geredet. Von nun an habe ihm Wicker misstraut.

3.3. Anfuehrer von Evakuierungsmaerschen

Wickers Motorrad wurde dann wichtig in der Endphase, so konnte er die Distanzen bei den Lageraufloesungen und Maerschen bewaeltigen. Zunaechst organisierte Wicker im Maerz den Abtransport der Sandhofer Haeftlinge. Mit einigen wenigen Haeftlingen (sechs) und dem Rest der Sandhofer Wachmannschaft begab er sich nach Bensheim-Auerbach zum dortigen KZ und befehligte den Abmarsch der Haeftlinge Richtung Erbach, unterwegs sollten die Haeftlinge das AL Heppenheim dazu stossen.
Ich zitiere aus den Erinnerungendes Luxemburger Haeftlings Ernest Gillen:
Am 22.Maerz begann der Abmarsch des Lagers Heppenheim, unterwegs (wahrscheinlich bei Fuerth im Odenwald) traf man auf die von Wicker angefuehrte Gruppe mit Haeftlingen aus Bensheim und Sandhofen.13 Aus der Heppenheimer Gruppe waren unterwegs etwa 10 Haeftlinge geflohen. Als Wicker das gemeldet wurde, loeste er sofort den verantwortlichen SS-Uschf ab, der wurde abgefuehrt, die Rangbabzeichen von seiner Uniform wurden entfernt. Zu den Heppenheimer Haeftlingen sagte Wicker, sie wuerden alle wegen Meuterei umgelegt. "Wir wurden in eine nahegelegene Wiese getrieben, mussten uns in eine Mulde legen flach auf den Boden, das Gesicht auf dem Gras. Den SS-Leuten, die sich im Kreise um uns herum aufstellen mussten, gab der Untersturmfuehrer mit lauter Stimme genaue Anweisungen, wie sie uns mit Handgranaten toetetn sollten. Dort lagen wir und warteten in schrecklicher Todesangst auf den angekuendigten Befehl. - Nach einer Zeitspanne, die mir eine Ewigkeit zu dauern schien, hob ich vorsichtig den Kopf und sah, dass die SS-Wachleute laessig herumstanden... Die Spannung liess nur langsam nach. Erleichtert hoerten wir nach laengerer Zeit, nach Stunden, den Befehl zum weitermarschieren."

Die Marschroute fuehrte entlang der Siegfriedstrasse durch den Odenwald ueber Beerfelden, Eberbach nach Neckarelz. Wicker war mit dem Motorrad unterwegs, fuhr voraus, um Quartier oder Nahrungsmittel zu organisieren. Auf dieser Strecke scheint es keine Todesopfer gegeben zu haben.
In Neckarelz uebernahm Wicker dann zu seiner kleinen Gruppe den groessten Teil der dortigen Haeftlinge zur Evakuierung nach Dachau hinzu. Es waren von nun 2007 Gefangene aus Neckarelz, Sandhofen, Heppenheim und Bensheim. Die (398) Kranken aus Kochendorf kamen in Waggons spaeter unterwegs dazu.14 Die Evakuierung dauerte vom 28. Maerz , dem Mittwoch der Karwoche, bis 2.April (Ostermontag).

Der erste Teil dieser Strecke war ein dreitaegiger Nachtmarsch nach Schwaebisch Hall mit zwei Tageshalten im Freien, einer davon in Kupferzell.15 Zu Opfern gibt es keine eindeutigen Angaben, der Zug hatte sich sehr auseinandergezogen, so dass auch die Orte schwer zuzuordnen sind, der erste UEbernachtungsplatz ist ungeklaert.


In Schwaebisch Hall wurden die Haeftlinge am 31.Maerz, am Karsamstag, in einen Zug verladen.
Wicker scheint diesen Transport begleitet zu haben. Mindestens bis Oberkochen (Ostersonntag) war er dabei, weil er vom dortigen Bahnhofsvorsteher beschrieben wird:
"An der Aussenwand des Bahnhofs war damals noch ein Brunnen mit der Aufschrift Trinkwasser. Ich weiss noch genau, wie einige der Gefangenen mit ihren Naepfen Wasser entnehmen wollten, was aber von dem den Zug begleitenden SS-Offizier sehr scharf verweigert wurde. Dieser Mann, ca 1,85 gross, hagere Gestalt mit recht ruppigem Gesicht, schwang dauernd seine Reitpeitsche und hatte einen grossen Hund bei sich. Er patrouillierte dauernd dort hin und her, so dass auch wir keine Moeglichkeit hatten, den Leuten Wasser zukommen zu lassen. Dieses Gesicht habe ich bis heute nicht vergessen." (zitiert in einem Brief von Ernest Gillen 4.5.95)
Am Ostersonntag, 1.4.45, in oder bei Oberkochen gab es einen Zwischenfall, als ein Jagdfliegerangriff auf den Zug stattfand, fuenf bis sieben Haeftlinge wurden getoetet. Gegen den Befehl von Wicker, die Waggons auf jeden Fall geschlossen zu halten, hatte Stahl in Oberkochen bei dieseem Jaboangriff erlaubt, dass die Haeftlinge sich ausserhalb unterstellen konnten. Er musste wegen dieses Zwischenfalls bei den Rastatter Prozessen auftreten, gerade diese Tatsache habe ihn jedoch entlastet, zumal wie er meint, dabei auch Haeftlinge geflohen seien.

Nach der Ankunft in Dachau am Ostermontag ist Wicker hoechstwahrscheinlich zum Rapport zur KZ-Kommandantur und/oder zum HSSPF nach Stuttgart gefahren. Dort muss er er den Befehl bekommen haben, die Evakuierung des KZ Hessental zu uebernehmen. In der Nacht vom 4. auf den 5. April (Donnerstag nach Ostern), also zwei Tage nach der Ankunft des Neckarelzer Transports in Dachau, kam er in Schwaebisch Hall an. Wie der damalige Bahnhofsvorstand von Hessental, Koehler, berichtet, kam nach Mitternacht ein SS-Offizier von Stuttgart, der den sofortigen Abtransport der Hessentaler Haeftlinge befahl. Nach Erinnerung des Hessentaler Lagerfuehrers Walling habe er gesagt: Acht Tage sei er "wegen dieses verfluchten Transportes unterwegs gewesen".16 Diese Aeusserung ist eigentlich nur sinnvoll, wenn man sie auf den vorangehenden Transport bezieht. Er beschimpfte Walling, weil der Betten fuer die Kranken in einen Waggon stellen liess. Wicker zeigte spaeter unterwegs waehrend dieses Transportes ein Schreiben mit einer Vollmacht, angeblich des Stuttgarter Polizeipraesidenten vor, hoechstwahrscheinlich des HSSPF(Höherer SS- und Polizeiführer) in Stuttgart.17 Denn gemaess eines Himmlerbefehls sollte in der letzten Kriegsphase die Evakuierung der Aussenlager unter der Befehlsgewalt dieser regionalen SS-Fuehrer geschehen.18 Der damalige HSSPF Suedwest in Stuttgart war Otto Hofmann (1896-1982), der fuer die Todesmaersche in unserer Region die letzte Verantwortung trug. Er war einer der wichtigsten Nazichefs, Fuehrer des Rasse- und Siedlungshauptamtes, damit Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, kurz danach wurde er HSSPF Suedwest (1943-45). In Nuernberg zu 25 Jahren Gefaengnis verurteilt, kam er schon 1954 wieder frei und lebte von da an unbehelligt.
Wahrscheinlich rechnete Wicker mit einem aehnlichen Verlauf dieses Transportes wie bei dem einige Tage vorher. Doch da wurde der Zug nach wenigen Kilometern bombardiert. Nun begann der Hessentaler Todesmarsch.Darauf brauche ich wohl hier nicht naeher einzugehen. Mit seinem Motorrad fuhr er die Strecke entlang, versuchte Quartier zu machen und Lebensmittel zu organisieren und ist auch fuer die Toetungsbefehle verantwortlich zu machen. Von den Zeitzeugen in den Doerfern entlang der Marschroute wird er in sehr negativem Licht geschildert, als brutal, ruecksichtslos, skrupellos.
Wie keiner der anderen Evakuierungsmaersche loeste sich dieser in verschiedene Marschsaeulen auf. Die Ueberlebenden kamen zwischen 11. und 15. April vor allem in Muenchen-Allach an. Hier in Hessental brauche ich sich nicht auf weitere Details dieses Todesmarsches eingehen.19
Wicker begab sich an seine neue Dienststelle nach Dachau.

In Dachau
Die restlichen Wachleute seiner 3.Kompanie (aus Mannheim, Heppenheim, Bensheim) blieben Wicker in Dachau weiter unterstellt, wozu dann auch Angehoerige der Neckarelzer Wachmannschaft gekommen waren. Dazu stiessen im Laufe des April Reste anderer Kompanien, die Evakuierungen begleitet hatten: wahrscheinlich die Wachleute von Hessental nach dem Todesmarsch, dann nachweisbar welche aus Vaihingen (etwa 30), die einen Transport begleitet hatten, und Neckargartach, vielleicht noch andere Natzweiler-Wachsoldaten. Sie bildeten in Dachau die "Wicker-Gruppe" oder "Kampfgruppe Sued" und mussten militaerisch exerzieren, u.a. an der Panzerfaust, angeblich spaeter um gegen die Amerikaner in den Kampf geschickt zu werden. Wicker wurde also nicht wieder zurueck nach Stuttgart geholt, wohin sich die Kommandantur von Natzweiler zurueckgezogen hatte, sondern er wurde offensichtlich dem KZ Dachau unterstellt. Wahrscheinlich war die Kampfgruppe im SS-Ausbildungslager Dachau untergebracht.
Bemerkenswert in den Zeugenaussagen zu dieser Formation ist, dass fast alle Ehemalige der Kampfgruppe Wicker den Namen Dachau vermeiden und eher von Bayern reden oder sagen "in der Naehe von Muenchen".
In diesen Tagen fand in Dachau eine Art Familientreffen der Familie Wickert statt: Seine Verlobte mit Sohn war anwesend oder wohnte schon die ganze Zeit hier, moeglicherweise in Wickers Dienstwohnung. Auch Wickers Mutter und Schwester waren zu Besuch in Dachau und erlebten hier das Ende des KZ Dachau mit. Wicker war also in diesen Tagen von drei Frauen umgeben. Der Gedanke draengt sich auf, dass sie es waren, die ihn in diesen Tagen unterstuetzt und gestaerkt haben, Familienkomplizen also.

Diese Ausbildung ging den April ueber bis zum 28. April:  Stahl erinnert sich an einen Appell, der an diesem Tag stattgefunden haben duerfte. Dabei verlas Wicker ein Schriftstueck: Die Gruppe solle sofort das KZ Dachau uebernehmen, um es spaeter an das Rote Kreuz zu uebergeben. Sie selber wuerden dann 24 Stunden Zeit zum Abzug haben. Darin spiegelt sich, die Ankunft des Rot-Kreuz-Vertreters Victor Mauer wieder, der am 27.April eingetroffen war, um mit dem KZ-Kommandanten Gottfried Weiss oder schon mit Wicker ueber die kampflose UEbergabe des Lagers zu verhandeln und eine entsprechende Vereinbarung zu schliessen.20 Denn entweder war Weiss schon weg oder er hat sich mit der ganzen SS- und Wachmannschaft des Lagers kurz darauf abgesetzt. Die Kampfgruppe Wicker besetzte die Wachtuerme. Stahl war erst am naechsten Tag eingeteilt. An diesem Morgen hat Wicker noch mit seiner Mutter gesprochen, danach hat sie ihn nach eigenen Angaben nicht mehr gesehen.

Stahl berichtet von diesem Sonntagmorgen noch folgende Geschichte: Beim Appell an diesem Sonntagmorgen, dem 29.4.45, habe Wicker versucht, ihm, also Stahl selber, das Kommando zu uebergeben und sich mit einigen Leuten davon zu machen. Dagegen haetten er und andere sich gewehrt. Entweder sollten alle zusammen abruecken oder alle dableiben. Da sei Wicker zurueckgewichen und hat seine SS-Rolle weitergespielt.
Kurz darauf hat Stahl seine Wachschicht angetreten auf dem Wachturm G, das war der naechste suedoestlich des Jourhauses. (Plan) Er sollte nicht mehr abgeloest werden: Am spaeten Nachmittag dieses Sonntags wurde das KZ Dachau befreit.

[Folie]: Plan des Lagers Verlauf des amerikanischen Vormarsches und die Konkurrenz zweier Einheiten bei der Befreiung des Lagers

Was genau Wicker an diesem Tag getan hat, ist wenig bekannt. Er muss jedoch in Verhandlungen mit einem Delegierten des Roten Kreuzes gestanden haben, dem Schweizer Staatsangehoerigen Victor Maurer. Diesem gelang es, ihn zur kampflosen UEbergabe des KZ an die bereits in umittelbarer Naehe befindlichen Amerikaner zu ueberreden.

Eine Erkundungseinheit mit mehreren Jeeps unter dem Brigadegeneral Linden war nach 16 Uhr von der Stadt Dachau losgefahren in Richtung KZ. Kurz vor dem Lager waren sie auf einen Gueterzug gestossen, in dem ueber 2000 Haeftlingsleichen, Muell, Kleiderreste lagen. Dieser Zug mit offenen Waggons war 3 Wochen von Buchenwald unterwegs gewesen und am Vortag in Dachau eingetroffen. Kopfschuettelnd beobachteten die Amerikaner, wie deutsche Zivilisten, darunter auch Kinder, mit Waegen und Fahrraedern daran vorbeifuhren, die in der Naehe ein Magazin gepluendert hatten.
Die Wut einer anderen kurz vorher hier vorbeifahrenden amerikanischen Kampfeinheit fuehrte wenig spaeter zu einem Exzess. Kriegsberichterstatter Bill Barrett schrieb in der neubegruendeten Bayerischen Landeszeitung am 25.Mai 1945: "Als unsere Soldaten am Nachmittag gegen 16 Uhr diese grauenhafte Entdeckung machten, entschlossen sie sich sofort, gegen das Lager vorzugehen... Sie begriffen, woher der fuerchterliche Gestank kam, der in ihre Nasen stieg, als sie den ersten geschlossenen Wagen erreichten. Hunderte von Koerpern wurden in den 30 Gueterwaegen aufgefunden. [...] "Ich sah nie zuvor die Leute in einer solchen Stimmung", sagte ein Leutnant spaeter. "Die Maenner waren wutentbrannt, sie liefen die Lagerstrassen entlang ohne Ruecksicht auf Deckung..."21 Dabei geht es um das SS-Ausbildungslager, nicht um das KZ.
Die Wut fuehrte kurz darauf einer spontanen Erschiessung von SS-Leuten an der Wand des Kohlenhofs des Lagerkomplexes. Diese SS-Leute hatten sich bereits ergeben. Dieser Verstoss gegen das Kriegsrecht wurde in den Wochen danach von einem amerikanischen Untersuchungsoffizier recherchiert, die Zahl der hier Erschossenen lag bei etwa 30. Darunter koennen sich auch ehemalige Wachleute der baden-wuerttembergischen Natzweiler-Aussenlager befunden haben.

Zurueck zur Einheit von General Linden, die sich von Suedwesten dem Haeftlingslager naeherte. In einem der Jeeps, die seine Erkundungseinheit bildete, sass der belgische Journalist Paul M.G. Levy als Kriegsberichterstatter22. Er beschreibt die nun folgende Szene in einem Zeitungsartikel vom 4.Mai 1945: "Eine weisse Fahne wehte auf dem Turm...Wir rueckten vor. In diesem Moment kam ein Zivilist mit weisser Fahne und einer Rot-Kreuz-Binde heraus, gefolgt von einem SS-Leutnant und einem SS-Soldat." Diese Szene spielte sich um 16.50 auf dem Eicke-Platz kurz vor dem Haupteingang des Lagerkomplexes ab. Hier kommt Wicker wieder in unser Blickfeld auf einem Foto:

Amerikanische Fotos 1-3 Interpretation der Fotos
Eicke-Platz zusammen mit dem Rot-Kreuz-Vertreter Maurer mit weisser Fahne. Das war der Zeitpunkt der offiziellen Uebergabe des KZ Dachau.

In seinem Gedenkartikel ein Jahr spaeter ergaenzte Levy: Der Rot-Kreuz-Delegierte kam "mit zwei SS-Leuten, die die Haende ueber dem Kopf zusammengelegt hatten...
Die SS-Leute waren ueberheblich. Natuerlich, sie haetten sie noch Maenner im Lager; sicher, diese Maenner seien bewaffnet, sie wuerden sich nur von Amerikanern in Waffen abloesen lassen; die Haeftlinge seien viel zu gefaehrlich, als dass man sie einfach so verlassen koennte..."23
Wicker bedient den Sicherheitsdiskurs, der in der Selbstlegitimierung der SS und auch zur Loyalitaet und Komplizenschaft mit dem KZ-System der deutschen Bevoelkerung eine grosse Rolle gespielt haben muss. Haeufig wird die Gefahr fantasiert, die von den Haeftlingen ausgehen koennte. Im Bereich des KZ Mittelbau werden Diebstaehle, auch Morde gezielt angeblich geflohenen KZ-Haeftlingen in die Schuhe geschoben.24 So werden die Gefangenen nicht als Opfer wahrgenommen, sondern ihr Bild geht in dem eines Gewalttaeters, Verbrechers auf. Das rechtfertigt die praeventive Brutalitaet der SS.
Ausserdem fuehrte sich Wicker in seiner Vorstellung als Soldat ein: er sei erst am Tag zuvor von der Front ins Lager versetzt worden. So umschrieb er seine Funktion in der "Kampfgruppe Wicker". In den Darstellungen der ehemaligen US-Militaers taucht Wicker deshalb bis heute als unbeschriebenes Blatt auf.
Nach dem Paul M.G. Levy verlangte General Linden nun Erklaerungen fuer den Todeszug. Als Wicker behauptete, nichts zu wissen, wurde Wicker zu diesem Zug gefuehrt, der auf dem Geleise vor dem Lagergelaende stand. In dem Todeszug aus Buchenwald mit 39 Waggons lagen noch ueber zweitausend Leichen der Haeftlinge, die den dreiwoechigen Transport nicht ueberlebt hatten. (Bertrand 1999; Dachau Memorial Site). Wicker wurde vor den Waggons fotografiert, um das Verbrechen zu dokumentieren. Er behauptete, nichts davon gewusst zu haben. Dieses Foto ist gewissermassen eine Inszenierung, es wurde gemacht im Bewusstsein, dass ein Lager wie Dachau fuer Massenmord steht. Bilder mit Leichenbergen aus Bergen-Belsen, Buchenwald und Ohrdruf waren in den Monaten vorher um die Welt gegangen. Dieses Bild ist moeglicherweise das erste (vielleicht das einzige), das das Motiv Leichenberg mit einem Verantwortlichen zeigt. Der amerikanische Soldat steht als Beglaubigung daneben, was bisher bereits oft beim Fotografieren als Motiv benutzt wurde.25 Vielleicht aus dem gleichen Grund stellte sich der Rot-Kreuz-Delegierte dazu. Das Bild scheint damals allerdings in Deutschland nicht veroeffentlicht worden zu sein, sonst haette die Figur dieses SS-Offiziers schon frueher Interesse erregt. Ich kenne auch keinen Hinweis darauf, ob es ueberhaupt damals nach 1945 veroeffentlicht wurde. Inzwischen ist es relativ bekannt, man sieht es oefter im Zusammenhang der Dachauer KZ-Geschichte.

Foto 4 Todeszug

Der Zusammenhang zu dem zeitlich letzten Foto [Foto 5] ist nicht ganz klar. Brigadegeneral Linden von der Chef der 42. Division "Rainbow", steht mit Wicker vor dem Jourhaus. Es ist wohl das das letzte Lebenszeichen, das es von dem ehemaligen Sandhofer Lagerfuehrer gibt. Inzwischen waren die Wachturm-Besatzungen gefangengenommen worden. Zuerst war der Turm G dran gewesen, wo der ehemalige Sandhofer Unterscharfuehrer Stahl das Kommando hatte. Die Amerikaner forderte Turmbesatzung herunterzukommen und die Waffen abzulegen. Stahl war mit seinen Leuten schreckensbleich von seinem Turm G entlang des Zauns, wo schon die schreienden, schimpfenden Haeftlinge standen, zum Jourhaus gegangen, - die schrecklichsten Minuten seines Lebens, wie er sagt. Die Mannschaft eines anderen Wachturms, des Turms B, waren von amerikanischen Soldaten erschossen worden, moeglicherweise hatten sie sich nicht gefuegt oder es war zu einer Kurzschlussreaktion der amerikanischen Soldaten gekommen.

Das Foto ist etwa eine Stunde nach dem ersten aufgenommen worden. Es zeigt die aktionsreichste Szene der Serie: den Eingang des Jourhauses, das Tor mit der beruechtigten Inschrift "Arbeit macht frei" ist schon geoeffnet. Haeftlinge haben das Jourshaus besetzt, Die Situation hätte zu diesem Zeitpunkt unkontrollierbar werden koennen. Die persoenliche Wache des Generals haelt das Gewehr im Anschlag. General Linden selber ist auf die Bruestung der Wuermbruecke gestiegen und hat vielleicht eine Pistole in der Hand, mit der anderen Hand scheint er Anweisungen zu unterstreichen, moeglichweise an die inzwischen angekommenen Einheiten, die die Lagersicherung uebernehmen sollen. Jedenfalls drehen sich mehrere Personen in die Richtung seiner Hand, auch Wicker, dessen Rolle hier schwer erklaerbar ist. Wie auch auf den meisten anderen Bildern hält Wicker hier die Hände auf dem Rücken. War er vielleicht gefesselt?

Was ist mit Wicker dann passiert? Die gefangenen Wachleute wurden vor das Lager gefuehrt und mussten sich dort auf den Boden setzen (moeglicherweise auf dem Eicke-Platz). Mehrere von den ehemaligen Angehoerige der Kampfgruppe Wicker sagten bei den staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen in den 60er Jahren aus, dass Wicker in Dachau von den Amerikanern getoetet worden sei. Zwei, darunter Stahl, haben gesehen, wie er von US-Soldaten aus der Gruppe der Wachleute herausgeholt und in ein Haus gefuehrt worden sei. Darauf habe man Schuesse gehoert, sie haetten ihn danach nicht mehr gesehen. In seinem neuen Buch "Legacies of Dachau" geht Howard Marcuse davon aus, dass Wicker erschossen worden ist. Er beruft sich darin anscheinend auf Haeftlingsbeobachtungen.26 Insgesamt sind am Befreiungstag des KZ Dachau etwa 40 bis 50 SS- und Wachleute von den Amerikanern erschossen worden. Zu diesen Vorfaellen sind in den Wochen darauf innerhalb der 7.Armee Untersuchungen gelaufen, offenbar jedoch nicht zu einer Erschiessung von Wicker. Waehrend die anderen Toetungen sich als "Schock- und Kurzschlussreaktionen" (Juergen Zarusky) einzelner US-Soldaten darstellen, haette sein Tod nach dem UEbergaberitual und seiner Vorfuehrung vor den Journalisten schon etwas von einer Hinrichtung ­ unweit von, aber ohne Wissen der UEberlebenden des Todesmarsches.
Die Angehoerigen erklaerten Heinrich Wicker fuer verschollen, wobei sie das moeglicherweise genauer gewusst haben. Bei der Entnazifizierung konnte die Familie seine gesamte KZ-Taetigkeit und auch die Evakuierungsmaersche verschweigen. Die Eltern bezogen 1951 bis 1959 eine Elternrente, ebenso erhielt sein unehelicher Sohn eine Waisenrente. Zu diesem Zeitpunkt war er offenbar fuer tot erklaert worden.

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1. Peter Koppenhöfer: Ein KZ als Verhaltensmodell?, in: Dachauer Hefte Nr.12 (1996)
2. Jens Christian Wagner, S.564
3. Alfred Hoffmann: Verschwunden aber nicht vergessen. KZ-Nebenlager in der Polizeischule Heidenheim. Eine Dokumentation. Heidenheim 1996, S.131.
4 Viele werden in der jeweilige Literatur zu den Aussenlagern wenigstens erwaehnt, teilweise anonymisiert: Vgl. Baur/Woerner S.120ff; H.Grosspeter passim; M.Grandt, S.150ff.; M. Schmid, S.41; Kaiser/Knorn, S.141ff
5. Dies kommt auch in Aeusserungen von Arnold Brendler, dem durch mehrere KZs gegangenen spaeteren Leonberger Lagerleiters Brendler zum Ausdruck. J.Baur/B.Woerner 2001, S.114
6. Vgl. Ernst Gillen ueber den Kontrollbesuch eines auswaertigen SS-Offiziers (= H.Wickers) im AL Heppenheim K.Giebeler/C:Schubert 1998,S.46. Die anderen Konzentrationslager scheinen uebrigens eine aehnliche Struktur der SS-Offiziere als Kompaniefuehrer und Chefs mehrerer Aussenlager gehabt zu haben. Vor allem deutlich bei Neuengamme: Froebe u a KZ in Hannover Band I,S. 76 f. - Mittelbau-Dora: Jens Christian Wagner, S.328ff.
7. So in Mannheim-Sandhofen: der Kompanieschreiber Josef Hoefele hatte ein angemietetes eigenes Zimmer als Schreibstube in der Strasse, wo das KZ lag.
8. Es wurden fuenf Gespraeche gefuehrt in den Jahren 1986 bis 1990. Nach anfänglicher Zurueckhaltung war Herr Stahl glaubhaft auskunftbereit. Ich habe ihm versprochen Vornamen und Geburtsdatum nicht bekanntzugeben. Viele seiner Erinnerungen haben sich inzwischen durch andere Quellen bestaetigt.
9. J.H.Linden 1997; Dachau Memorial Site; Harold Marcuse 2001.
10. BA Ludwigsburg 419 AR-Z 171/1969 Zum Hessentaler Todesmarsch und Heinrich Wicker
11. Heimes, Ernst: Das Aussenlager des KZ Natzweiler in Cochem/Mosel mit seinen Lagern Bruttig und Treis
In: Meyer/Berkessel Bd 2, 268-275
12. Frieda Wunderle, Ruth Bohrmann, Irmgard Thaler - PA
13. Ernst Gillen in Giebeler/Schubert 1998, S.47
14. KZ Museum Dachau Raeumungstransporte aus dem Bereich KL Natzweiler, zit. bei Heinz Risel: KZ in Heilbronn. Das SS-Arbeitslager Steinbock in Neckargartach. Nordheim 1987 (Selbstverlag)
15. Ernst Gillen in Giebeler/Schubert 1998, S.47 und Brief vom 4.5.1995; L.Lefrançois 2001; Stanislaw Kawka und Jerzy Bielinski, PA
16. Koziol, S.120
17. S.Koziol 1986, S.120; Zur Vollmacht: ZSL 419 ARZ 171/1969, Bl.271
18. Daniel Blatman 1998, S.1068 f
19. Die Zahl der Todesfälle während des Marsches ist unbekannt. Sicher waren es mehrere Hundert.
20. J.Zarusky 1997, S. 34 f.
21. Faksimile des Artikels in H.Knoch, S 141: Der Artikel hat die UEberschrift: "Dachau: Gueterwagen voll Leichen wiesen den Weg" Er benutzt keine Dachauer Fotos.
22. Baron Paul M.G. Levy wurde wenige Jahre danach der erste Direktor fuer Information der Europarats, wo er eine sehr grosse Rolle spielte. Beispielsweise ist er der Erfinder er EU-Flagge. Danach war er als Professor in Strassburg und in Belgien taetig. Er starb erst 2002, nachdem er kurz zuvor vom belgischen Koenig geadelt worden war.
23. Franzoes.Original, abgedruckt in J.H. Linden 1997, S.111f
24. Jens Christian Wagner, S
25. Habbo Knoch, S.132 ff.
26. H.Marcuse 2001, S.5. Vgl. auch Juergen Zarusky 1997, S.53 ueber eine moegliche Erschiessung von Wicker.

Quellen  und Literatur


BA LB (fruehere Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg = ZSL):
Zum Hessentaler Todesmarsch und Heinrich Wicker: 419 AR-Z 171/1969
Privatarchiv der Erinnerungen ehemaliger Haeftlinge des KZ Mannheim-Sandhofen sowie von einheimischen Zeitzeugen (beim Autor): Alle Interviews, Fragebogen und Briefe werden im folgenden zitiert unter: Name, PA
Internetquellen
Dachau Memorial Site: http://www.scrapbookpages.com/DachauScrapbook/index.html Schilderung einer Gegenposition zu General Linden

 

LITERATUR:

Blatman, David: Die Todesmaersche. Entscheidungstraeger, Moerder, Opfer, in: Herbert/K.Orth/C.Dieckmann (Hg.) Die nationalsozialistischen Konzentrationslager ­ Entwicklung und Struktur, Bd.II Goettingen 1998, S.1063ff
Baur, J./Woerner, B.: Konzentrationslager und Zwangsarbeit in Leonberg, Leonberg 2001
Bertrand, François; Der Todeszug nach Dachau; in: Dachauer Hefte 15 (1999), S.17ff.
Ernst, Detlef/Riexinger, Klaus: Vernichtung durch Arbeit. Die Geschichte des KZ Kochendorf /Aussenkommando des KZ Natzweiler-Strufhof. Bad Friedrichshall 1996
Gedenkpfad Eckerwald. Das suedwuerttembergische Schieferoelprojekt und seine sieben Konzentrationslager.
Das Lager Schoerzingen und sein Aussenkommando Zepfenhan. O.J. Deisslingen-Laufen Grosspeter, Hanns: Mit dem Ruecken zur Wand. Autobiographische Erzaehlungen vom Alltag und UEberleben im Konzentrations-Revierlager Vaihingen an der Enz. In: Schriftenreihe der Stadt Vaihingen a.d. Enz, Bd 4 (1985), S.179ff.
Hagenbourger, Julien/Lempp, Gerhard: Aus schwerem Traum erwachen. Deisslingen-Lauffen 1999
Heimes, Ernst: Ich habe immer nur den Zaun gesehen. Suche nach dem KZ-Aussenlager Cochem, 2.Aufl. Koblenz 1993
Heimes, Ernst: Das Aussenlager des KZ Natzweiler in Cochem/Mosel mit seinen Lagern Bruttig und Treis, In: Hans-Georg Meyer, Hans Berkessel (Hg.): Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz Bd 2.
Fuer die Aussenwelt seid ihr tot. Mainz 2000, S. 268-275
Hoffmann, Alfred: Verschwunden aber nicht vergessen. KZ-Nebenlager in der Polizeischule Heidenheim. Eine Dokumentation. Heidenheim 1996
Knoch, Habbo: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2001
Koziol, Michael Sylvester: Ruestung, Krieg und Sklaverei.Der Fliegerhorts Schwaebisch Hall-Hessental und das
Konzentrationslager. Sigmaringen 1986
Lefrançois, Louis: Dachau matricule 77044, Cancale 2001
Linden, John H. Surrender of the Dachau Concentration Camp 29 Apr 45. The True Account, Elm Grove 1997
Marcuse, Howard: Legacies of Dachau. The Uses and Abuses of a Concentration Camp, 1933-2001, Cambridge 2001
Pawlak, Zacheusz: Ich habe ueberlebt. Hamburg 1979
Risel, Heinz: KZ in Heilbronn. Das SS-Arbeitslager Steinbock in Neckargartach. Nordheim 1987 (Selbstverlag
Wagner, Jens-Christian: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora Goettingen 2001
Zarusky, Juergen: "That is not the American Way of Fighting". Die Erschiessungen gefangener SS-Leute bei der Befreiung des KZ Dachau, in: Dachauer Hefte 13 (1998), S.27-55

 

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